Der Marienturm

Vor 129 Jahren war das deutsche Reich gerade 15 Jahre alt. Deutscher Kaiser war Wilhelm 1. und Reichskanzler war Otto von Bismarck. Schwarzburg - Rudolstadt wurde vom Fürsten Georg Albert regiert. Bürgermeister der Residenzstadt war Paul am Ende und Gemeindevorsteher von Cumbach, Paul Kreutzer.
Als das Jahr 1886 begann, gab es im Fürstentum Schwarzburg – Rudolstadt ca. 84.000 Einwohner, davon wohnten ungefähr 10.600 in der Residenzstadt.
Die durchschnittlichen Rudolstädter (natürlich auch die Cumbacher) waren damals protestantisch, gottesfürchtig und obrigkeitstreu. Au-ßerdem waren sie sehr naturverbunden und liebten ihre Heimat.
In den 15 Jahren seit der Gründung des Deutsche Kaiserreichs erlebte die ganze Region große Veränderungen und einen wirtschaftlichen Aufschwung. An einigen Beispielen möchten wir dies erläutern:
• 1873 wurde die neue Stadtbrücke gebaut.
• Im Mai des Jahres 1874 wurde die Eisenbahnstrecke in Betrieb genommen.
• Am 10.11. 1874 wurde die städtische Gasanstalt hinter dem Ost-friedhof eröffnet.
• Drei Jahre später - also 1877 - begann die Produktion in der Richterschen Fabrik.
• 1880 wurde das Rudolsbad, ein Kurhotel in der 5-Sterne Katego-rie eröffnet und es wurde der dazugehörige Rudolspark seiner Bestimmung übergeben.
Auch im Jahr 1886 setzte sich die Entwicklung so fort. Erwähnen möchte ich neben dem Bau des Marienturmes:
• Den Beschluss des Stadtrats von Rudolstadt zum Anlegen des Stadtparks – dem heutigen Heine-Park.
• Die Errichtung des Wasserwerks auf der Großen Wiese.
• Den Anschluss der Stadt Rudolstadt an die Hochdruckwasserleitung.
• Den Beginn des Baues der Elisabeth-Brücke, die übrigens damals nur aufgrund der Inbetriebnahme des Wasserwerkes errichtet wurde.
• Die Eröffnung des Lazaretts in der Mörlaer Straße.
Die Aufzählung ist natürlich nicht vollständig. Sie macht aber deutlich, dass der Bau des Marienturms in einer sehr bewegten und ereig-nisreichen Zeit erfolgte.
Wer war nun Carl Becker? Wie kam es zum Bau des Marienturms?
Carl Albert Constantin Becker wurde am 7.12.1844 in Rudolstadt geboren. Seine Eltern waren der Metzgermeister Gottlieb Friedrich Theodor Becker und Johanne Sophie Christiane geborene Mittelhäuser aus Cumbach.
Über Kindheit, Schulbildung, Jugendzeit und Berufsausbildung von Carl Becker ist so gut wie Nichts überliefert.
Vermutlich wuchs er in der Mangelgasse 11 auf. Das Haus war seit 1826 im Besitz der Familie Becker. Während in späteren Jahren immer nur vom Brauereibesitzer die Rede ist, erscheint in der Anzeige seiner Eheschließung der Beruf Gerber. Einige seiner späteren Gedichte lassen die Vermutung zu, dass er auf seiner Wanderschaft in der Schweiz, in Österreich und in Italien war.
Am 21.5.1872 ehelichte Carl Becker die zwei Jahre jüngere Emilie Amalie Maria Schaar, Tochter des Gerbermeisters Gustav Schaar. Dem Ehepaar wurden drei Kinder geboren.
Carl Becker war mit seinem Bruder Hermann zunächst Mitbesitzer einer Brauerei und Schankwirt in Karl Beckers Bierwirtschaft, die sich im Elternhaus in der Mangelgasse 11 befand. Spätestens um 1877 betrieben die Brüder Becker die Exportbier-Brauerei Rudolstadt-Cumbach". Sie befand sich ungefähr auf dem Gelände der heutigen Gaststätte Mariental.
Eigene Ausschankstellen gab es in der Brauerei Cumbach selbst, in der Mangelgasse 11, in den Angerlokalen und später in der Gastwirtschaft „Zum Marienturm".
Durch seine Geschäfte brachte es Carl Becker zu Wohlstand. Das Haus in der Mangelgasse ließ er um 1880 so umbauen, wie es heute noch zu sehen ist. Die Gastwirtschaft wurde um einen Vereinssaal im Hof des Anwesens vergrößert. Zu DDR-Zeiten war darin die Schülerspeisung untergebracht.
Carl Becker war außerordentlich naturverbunden und musisch begabt. 1890 veröffentliche er eine Sammlung seiner Gedichte und Lieder. Eine zweite Auflage erfolgte 1903.
Sehr aktiv betätigte er sich in der Thüringer Sängerbewegung. Seine Lieder gehörten damals weit über Rudolstadt hinaus zum Repertoire vieler Chöre. Er war Ehrenmitglied des Gesangvereines „Liederkranz“ zu Rudolstadt und Ehrenmitglied des Thüringer Waldvereins.

Von seiner Mutter hat Carl Becker das Waldgrundstück auf den Galeriebergen geerbt. Dort stand damals eine Berghütte, die er mit seiner Familie häufig aufsuchte. Die Stelle, wo heute der Marienturm steht, war sein Lieblingsplatz, den er selbst, wegen der unbeschreiblich schönen Aussicht auf das Saaletal, Rudolstadt, dem Luisenturm und auf die Leuchtenburg, „Bildergalerie“ nannte.
Der lang gehegte Traum des naturverbundenen Rudolstädters, an dieser Stelle einen Aussichtsturm zu errichten, sollte in Erfüllung gehen. Anfang des Jahres 1886 war es soweit. Am 20. Januar begannen die Vorarbeiten für die Errichtung. Die feierliche Grundsteinlegung er-folgte am 25. Februar.
Im Grundstein wurde eine ganze Reihe von Dokumenten eingeschlossen, unter anderem auch ein Gedicht von Anton Sommer. Er schrieb die Verse in Rudolstädter Mundart, damit diese der Nachwelt, die nach seiner Meinung im Jahre 2000 wohl nur noch „Huchdeutsch“ sprechen wird, erhalten bleibt.
In der Woche nach der Grundsteinlegung begannen die Bauarbeiten. Als Baumaterial diente Buntsandstein, der gleich an Ort und Stelle an der östlichen Seite des Marienturms gewonnen wurde. Alles Weitere was noch benötigt wurde, musste mit Eseln durch den Heisengraben - dem Vorläufer der Straße zum Marienturm - zur Baustelle transportiert werden. Der Bau ging zügig voran. Es gab keine Unfälle. Bereits am 15. August 1886 konnte der Turm eingeweiht werden.
Die Einweihung des Marienturmes war für die damalige Zeit ein gesellschaftliches Großereignis. Der Gemeindevorsteher von Cumbach, Paul Kreutzer, hat das Ereignis in einer Chronik festgehalten.
Danach versammelten sich die Festteilnehmer - es sollen 4.000 bis 5.000 Personen gewesen sein! - auf der Saalebrücke und marschierten begleitet von der städtischen Kapelle nach Cumbach. Dort wurden sie vom Gemeindevorsteher begrüßt und setzten dann unter den Klängen der Musik ihren Weg auf die Höhe fort.

Der Marienturm war mit Flaggen, Girlanden und den Fahnen der verschiedenen Gesangvereine festlich geschmückt. Die Ankunft des Festzuges auf dem Plateau wurde mit Kanonenschüssen begrüßt und von den Zinnen des Turmes erklang ein feierlicher Choral. Danach erfolgte die eigentliche Einweihung und Namensgebung des Marienturmes.
1897 ließ Carl Becker unweit des Marienturmes ein Mausoleum für sich und seine Familie errichten, dessen Wände im Inneren mit Liedzeilen aus seiner Feder geschmückt waren.
Am 27.3.1906 verstarb Carl Becker nach langer schwerer Krankheit in Rudolstadt. Seine Frau Marie folgte ihm am 20. 09. des gleichen Jahres. Beide wurden sie in dem Mausoleum bestattet. Die Särge der Eheleute Becker und die Urnen einiger Angehöriger befanden sich hier bis 1967. Andauernder Vandalismus war damals der Grund für ihre Überführung auf den Nordfriedhof.
Es war Carl Beckers Wunsch gewesen, den Turm auch nach seinem Tod für die Öffentlichkeit zu erhalten. Das ganze Areal hat dann aber leider eine sehr wechselvolle Geschichte und einige Eigentümerwechsel durchlebt.
Im Jahr 1923, nach der Eingemeindung von Cumbach in die Stadt Rudolstadt, hat sich der Stadtrat das Vermächtnis von Carl Becker zu eigen gemacht und beschlossen, den Marienturm in städtisches Eigentum zu übernehmen. Er stand seitdem als Aussichtsturm zur Verfügung. Ab 1961 bis 1990 war der Turm für die Öffentlichkeit gesperrt, weil sich darin Funkanlagen und ein Fernsehumsetzer befanden. Dank ehrenamtlichen Engagements nach 1990 steht der Turm der Öffentlichkeit wieder zur Verfügung.